Ein Gegenentwurf zum Vergessen

Am „Schicksalstag der Deutschen“ haben mehr als 50 Bürger der Opfer des Nazi-Regimes gedacht. Anlass war die zweite Verlegung von sogenannten Stolpersteinen des Kölner Künstlers Gunter Demnig.

Die Stolpersteine erinnern an die jüdische Familie Siegfried und Sophie Marx mit ihren Kindern Herbert-Leopold, Ella-Rosi und Otto, die bis 1933 in der Waldstraße 10 lebten. Außerdem an Schenni Strauss, die bis 1939 in Nauheim wohnte. Vor dem Haus auf dem Heinrich-Kaul-Platz 12 wurde ihr Stolperstein verlegt.

Künstler Gunter Demnig war diesmal nicht selbst dabei. Die sechs Steine waren zuvor von Mitarbeitern des Bauhofs verlegt worden. Am Ende der Zeremonie legten die Stein-Paten gelbe Rosen nieder. Stolperstein-Patenschaften haben der Landfrauenverein, Peter Pfundstein, die evangelische Kirchengemeinde, Vera und Wolfgang Lindner, Magreth Brugger und Ursula Ackley übernommen.

„Stolpersteine regen dazu an innezuhalten“, sagte Bürgermeister Jan Fischer (CDU). Gestolpert werde nur gedanklich, die golden schimmernden kleinen Gedenktafeln fallen auf, egal in welcher Stadt.

Die Stolpersteine erinnerten nicht nur an die Opfer des Nazi-Regimes, sondern seien heute auch ein Mahnmal. Krieg, Vertreibung und nicht gewährte Religionsfreiheit griffen in der Welt wieder um sich, sagte Fischer. Doch es gebe Hoffnung. In Nauheim würden heute Menschen aufgenommen, die vertrieben und geflüchtet seien. „Auch daran helfen die Stolpersteine zu denken“, so der Bürgermeister.

Die Gemeindevertretung hatte 2013 beschlossen, dass in Nauheim Stolpersteine verlegt werden und den Heimat- und Museumsverein damit beauftragt. Der Verein habe das Datum 9. November ganz bewusst für die Stolperstein-Verlegung gewählt, erklärt Vorstandsmitglied Hans Joachim Brugger. Heimatforscher Karl-Heinz Pilz habe mit seiner Broschüre zum Schicksal der jüdischen Mitbürger Grundlagenarbeit geleistet, lobte Fischer.

Viel Neues bei der Recherche entdeckt

Die Verlegung der Steine sei gar nicht die wichtigste Arbeit, sagte Pfarrer im Ruhestand Walter Ullrich, Vorsitzender des Fördervereins Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau. Viel wichtiger sei in diesem Zusammenhang die Vorarbeit und Recherche. Dabei komme immer wieder viel Neues zum Vorschein, was vorher nicht bekannt gewesen sei.

Ullrich erinnerte an das Buch „Verschwundene Nachbarn“, in dem Angelika Schleindl für den Kreis Groß-Gerau vor 25 Jahren wichtige Grundlagenarbeit geleistet habe. „Das muss fortgesetzt werden“, fordert Ullrich. Denn durch die Öffnung der Grenzen und die Wiedervereinigung seien weitere Quellen erreichbar.

Dazu komme der persönliche Kontakt mit Überlebenden. Ullrich lerne immer noch Menschen kennen, die früher im Kreis lebten. „Die Menschen suchen nach ihrer Heimat“, sagt Ullrich. Nicht alle könnten oder wollten hierher zurückkommen, aber das Gespräch werde gewünscht. Die Stolpersteinverlegung stoße die Kommunikation an.

„Das Gedenken darf nicht in der Vergangenheit hängen bleiben“, mahnte Ullrich. Es müsse auch durch solche Aktionen immer präsent bleiben, sonst gerate es irgendwann in Vergessenheit. Mit Blick auf Pegida meinte Ullrich, die Erinnerung an den Schrecken der Nazizeit müsse wachgehalten werden. Nur so könne den Versuchungen widerstanden werden.

Ähnlich äußerte sich auch Landrat Thomas Will (SPD), der zusammen mit den Landtagsabgeordneten Kerstin Geis (SPD), Sabine Bächle-Scholz und Günter Schork (CDU) an der Feierstunde teilnahm. Das Gedenken an die Nazi-Opfer müsse in die nächsten Generationen weitergetragen werden, sagte Will. Mit den Stolpersteinen bekämen die Opfer wieder ein Gesicht, das sei der „Gegenentwurf zum Vergessen“.

Für Peter Pfundstein ist die Stolperstein-Patenschaft ein ganz persönliches Anliegen, erklärte er. Auch die eigene Familie wurde wegen ihres Namens von den Nazis verfolgt. Sein Vater musste sich 14 Tage Urlaub nehmen, um zu recherchieren und den „Arier-Nachweis“ zu erbringen, schilderte Pfundstein.

Quelle: Echo Online, 11.11.2015